Impulse

Psychologische Sicherheit: die zurückgehaltenen Potenziale einer Organisation freisetzen und entfalten

Von Alexandre Iellatchitch


Der Begriff der psychologischen Sicherheit (PS) hat in letzter Zeit stark an Bedeutung gewonnen. Sowohl der Erfolg des Buchs „The Fearless Organization“ (2018) von Amy Edmondson als auch das Project Aristotle – eine aufwendige interne Untersuchung zur Erforschung von Teamerfolgsfaktoren bei Google – haben viel dazu beigetragen. Bei Letzterem konnte die PS klar als wichtigster Faktor für den Teamerfolg identifiziert werden.

Dabei ist der Begriff nicht neu, sondern war bereits in den 1960er-Jahren in der Managementliteratur zu finden. So erwähnten Schein und Bennis 1965 in ihrem Buch die PS in Zusammenhang mit Veränderungen in Organisationen. Eine hohe PS wurde als zentral angesehen, um Mitarbeiter:innen während Transformationsprozessen einen positiven Umgang mit Ungewissheit und Ängsten zu ermöglichen. Indem PS den Abbau von defensiven Haltungen und Lernängsten fördert, steigert sie den Fokus auf das Erreichen gemeinsamer Ziele. Selbstschutz tritt in den Hintergrund. Schon in der frühen Auseinandersetzungsphase mit der PS in Unternehmen und Organisationen wurde auf die große Bedeutung hingewiesen, die das innere Befinden für die Veränderungsbereitschaft besitzt.

Risiko vs. Bereitschaft

Amy Edmondson definiert die PS folgendermaßen: Psychologische Sicherheit ist die von Gruppenmitgliedern gemeinsam geteilte Überzeugung, dass die Gruppe sicher ist, um zwischenmenschliche Risiken einzugehen. Will man feststellen, ob in einer Organisation PS gelebt wird, kann sich jede:r folgende Fragen stellen: Inwiefern traue ich mich, meine Ideen,

Fehler offen anzusprechen? Oder muss ich befürchten, lächerlich gemacht, ignoriert oder gar an den Pranger gestellt zu werden? Ist das Risiko dafür zu hoch, wird meine Bereitschaft, mich einzubringen, stark sinken.

Das heißt für das Team beziehungsweise die Organisation, dass Ideen, Vorschläge, Kritik, Warnungen, Beobachtungen etc. nicht zugänglich gemacht werden. Ginge es nur um die persönlichen Befindlichkeiten eines Mitgliedes, wäre es für das Team wahrscheinlich zu verkraften. Betrifft es aber ganz Gruppen bzw. den Großteil der Belegschaft, gehen durch die geringe PS umso mehr Kompetenzen, Potenziale, Erfahrungen, Kreativität und Einsichten mit unschätzbarem Wert für die Organisation verloren.

Der Begriff der psychologischen Sicherheit kann zu zwei konträren Missverständnissen führen. Einerseits herrscht die Ansicht, dass eine ausgeprägte PS das Unternehmen zu einem gemütlichen Kaffeehaus macht, in dem man sich zwar sehr wohl fühlt, in dem aber kaum Leistung zu erwarten ist. Andererseits wird PS oft in Verbindung mit einer allgemeineren Kritik an New Work gebracht. Der Fokus der PS liege lediglich auf immer höheren Leistungserwartungen Mitarbeiter:innen gegenüber. Mithilfe raffinierter Managementmethoden sollen die Mitarbeiter:innen zur Selbstausbeutung getrieben werden.

Die drei psychologischen Grundbedürfnisse

Beide Ansichten gehen aber an der Essenz der PS vorbei. PS ist weder einpage54image128900832 unternehmerisches Schlafmittel noch ein Weg, um den Leistungsdruck zur erhöhen. Indem die wesentlichen intrinsischen Motivatoren angesprochen werden, fördert PS jedoch tatsächlich das Erreichen höherer Leistungen. Der sogenannten Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory, kurz SDT) zufolge, hängt die intrinsische Motivation von der Befriedigung der drei von ihr identifizierten psychologischen Grundbedürfnisse (Kompetenz, soziale Eingebundenheit und Autonomie) ab.

Unter Kompetenz wird in der SDT das Gefühl verstanden, effektiv und im Sinne des gewünschten Ergebnisses auf als wichtig erachtete Dinge wirken zu können. „Ich kann und werde es schaffen.“

Autonomie ist mit einem Gefühl der Freiwilligkeit beim Tun verbunden. „Ich tue es, weil ich es will bzw. weil mir klar ist, warum ich es machen sollte.“

Die soziale Eingebundenheit bezieht sich sowohl auf die Bedeutung, die andere für mich haben, als auch auf die Bedeutung, die ich für sie habe. „Ihr seid mir wichtig, ich bin euch wichtig.“

Psychologische Sicherheit steigert Engagement

Mit diesen Grundbedürfnissen vor Augen, werden die Ergebnisse unterschiedlicher Untersuchungen zu Auswirkungen der PS noch nachvollziehbarer. So wurde etwa neben der höherer Teamleistung (siehe Project Aristotle) auch ein starker Zusammenhang mit der Bereitschaft identifiziert, sowohl Neues zu lernen als auch für mehr Eigenverantwortung.

Dabei umfasst das Lernen von Neuem die Entwicklung neuer Kompetenzen und durch diese Neues zu ermöglichen und zu beeinflussen. Je klarer und attraktiver der Sinn eines Zieles ist, desto stärker ist dessen Aneignung sowie das (gefühlte) freiwillige Engagement zu seiner Erreichung.

Dieses Engagement manifestiert sich im Willen, Initiative zu ergreifen, sich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Spürt man die Wertschätzung und das Vertrauen aus dem eigenen Team – als Grundlage für die Selbstverständlichkeit einer konstruktiven und positiven Fehler- und Lernkultur –, so verstärkt sich das eigene Engagement.

Da derartige Prozesse nicht mechanisch ablaufen, kann eine Leistungssteigerung zwar nicht garantiert werden, sie ist aber wahrscheinlich. Denn die psychologischen Grundbedürfnisse – also die Entwicklung und das selbstständige Einbringen neuer Kompetenzen in einem wertschätzenden sowie vertraulichen sozialem Umfeld – können nicht durch zu leicht erreichbare bzw. routinierte Ziele erfüllt werden. Diese würden den Sinn sowie den Willen für Engagement und Anteilnahme schnell schwächen. Dafür benötigt es herausfordernde (nicht überfordernde) Ziele.

Die psychologische Sicherheit unterstützt die Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse und bildet einen förderlichen Rahmen für die Entfaltung von Leistung, Weiterentwicklung und Kreativität, Wohlbefinden, offener und ehrlicher Kommunikation, individueller und kollektiver Intelligenz, permanente und konstruktive „einander reiben“ Reibung Herausforderung des Vorhandenen.

Es geht also um Aspekte, von denen im Grunde genommen jede Organisation, unabhängig von ihren Strukturen und Leistungen, profitieren kann. Diese werden aber umso wichtiger,

  • ... wenn Organisationen erhöhte Flexibilität bzw. Agilität in ihren Strukturen und Prozessen einführen

  • ... mehr Eigenverantwortung im Zuge größerer Autonomie gewünscht ist

  • ... Hierarchien abgebaut werden (sowohl in ihrer formalen Macht als auch symbolisch) und rasche bzw. unkomplizierte Entscheidungswege gefördert werden.

Der "Zünder" für die Entwicklung der PS ist in der Führung zu finden. Hier bekommen die operativen Führungskräfte die größte Einflussmöglichkeit durch ihre Führungshaltung (also die grundsätzliche Einstellung einer Person, die ihr Denken und Handeln in der Führung maßgeblich beeinflusst) und wie diese sich in der Führungsbeziehung mit den eigenen Mitarbeiter:innen zeigt. Diese Grundhaltungen können im Sinne einer offenen und authentischen Selbstreflexion hinterfragt und herausgefordert werden. Diese Bereitschaft soll demzufolge als wesentliche Eigenschaft jeder Führungskraft zu bewerten sein. Die Grundhaltungen in der Führung werden entweder ermöglichen oder erschweren, dass sich eine Führungskultur etabliert, die positive emulation fördert, und im Sinne der eigenen Entwicklung die Lust, von den Besten zu lernen, an die Stelle kontraproduktiver Konkurrenz tritt.


Abb.: Der Einfluss der Führung auf die Psychologische Sicherheit und deren mögliche Auswirkungen auf die Leistung
 

Altgediente Muster überwinden

Viele Begriffe, die ebenfalls innerhalb der letzten Jahre entweder entstanden oder wiederbelebt wurden, zeigen einen klaren Trend. Ob der Sammelbegriff New Work, Holokratie, Liberating Leadership, U-Theory oder Teal Organizations – alle diese Ansätze deuten auf eine notwendige und radikale Abwendung von den tayloristischen Grundprinzipien (Trennung von Kopf und Hand bzw. Expert:innen und ausführenden Mitarbeiter:innen). Die erkannte Komplexität kann nicht mehr von wenigen Expert:innen verstanden und gemeistert werden. Alle Köpfe werden gebraucht, um die VUCA-Welt überhaupt wahrzunehmen und in ihr handlungsfähig zu sein.

Auch wenn viele Geschäftsführungen das bereits als selbstverständlich ansehen: Organisationen müssen einen Rahmen aufbauen und anbieten können, der das Einbringen und Mitdenken aller Mitarbeiter:innen fördert. Leider ist dieser Rahmen allzu oft nicht bzw. nicht ausreichend vorhanden. Trotz des voranschreitenden Wandels im Leadership sind auch autoritäre Führungskräfte immer noch ein ernstzunehmendes Hindernis. Sie an den Pranger zu stellen, wäre aber etwas zu einfach. Die Schwierigkeit, sich von altgedienten und angeeigneten Mustern zu trennen bzw. diese zumindest infrage zu stellen, sollte nicht unterschätzt werden. Denn im gesamten 20. Jahrhundert hat sich eine ineinandergreifende Anpassung zwischen „Hardware„ und „Software„ etabliert. Diese führte zu Organisationsprozessen und Strukturen, die sich bis heute direkt in den Führungsverständnissen und -kulturen widerspiegeln.

Das Bild der Führungskraft als Held, das nach wie vor in unzähligen (Auto-)Biografien zelebriert wird – als würde der Erfolg eines Weltkonzerns in den Händen einer einzigen Person liegen –, führt unweigerlich dazu, dass sich die führende Person über die Geführten stellt. Dieses Bild wird auch durch die klassische Darstellung eines unternehmerischen Organigramms vermittelt. Dass dadurch ein Gefälle in der Kommunikation entsteht, ist nicht verwunderlich, egal wie wertschätzend diese auch gemeint ist.

Es ist kein Zufall, wenn heute die Fähigkeit zur kontinuierlichen Selbstreflexion als eine der wichtigsten Kompetenzen für Führungskräfte genannt wird. So erwähnt Amy Edmondson candor als erfolgskritische Grundhaltung von Führungspersonen für die Entfaltung von PS. Das Wort wäre ins Deutsche am besten mit „authentischer Offenheit„ zu übersetzen. Es impliziert die tiefe Überzeugung, dass die eigenen Ideen nicht über denen anderer stehen, dass Zuhören einen selbst und die Organisation weiterbringen kann und dass die Vermittlung ehrlicher Neugier mehr bewirkt und zu einem besseren Monitoring führt als strenge Kontrolle. Eine derartige Haltung fest zu verankern ist viel Arbeit, die sich aber in jeder Hinsicht lohnt. Man denke nur an die Potenziale, die sich dadurch auf den unterschiedlichen Ebenen eines Unternehmens entfalten können.

Psychologische Sicherheit bietet Zugang zu neuen Lösungen

Psychologische Sicherheit ist wegen ihrer Fragilität mit permanenter Arbeitverbunden. Sie muss immer wieder überprüft und infrage gestellt werden. Wie Vertrauen kann PS nicht verordnet werden, sondern entsteht aus einem längeren Prozess. Dessen Dauer variiert nach Ausgangssituation und Kontext. In einer Organisation, in der z. B. jahrelang management by fear üblich war, wird er mit höchster Wahrscheinlichkeit länger dauern als in einem neu gegründeten Unternehmen ohne belastende Vorgeschichte. Was aber – oft mit viel Geduld – aufgebaut wird, kann auch sekundenschnell zunichte gemacht werden. Ein unglücklicher Führungswechsel hätte zum Beispiel dieses Potenzial. Des Weiteren gibt es Szenarien, in denen auch gelebte PS individuelle Ängste nicht nehmen kann (z. B. schwere wirtschaftliche Krisen, geplanter Personalabbau). Es ist nicht die Rolle von PS, die objektive Realität schönzureden bzw. alles durch die rosarote Brille wahrzunehmen. Sie ermöglicht aber den offenen Austausch und das Ansprechen der eigenen Ängste und Befürchtungen in schwierigen Zeiten. Psychologische Sicherheit löst nicht jedes Problem, kann aber den Zugang zu möglichen Lösungen erleichtern.
 



Dieser Impuls ist ein Beitrag aus unserer Publikation LEADING NEW WORK - Herausforderung, Lösungsansätze und Denkanstöße von HR-Expert:innen. Interessiert? Hier kostenloses Exemplar bestellen.
 


Sie können Ihre Einstellungen jederzeit ändern und Ihre Zustimmung widerrufen. Die Rechtmäßigkeit, der aufgrund der Zustimmung bis zum Widerruf erfolgten Verarbeitung, wird dadurch nicht berührt. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.